Erlösung im Rock’n’Roll
Hallam London lieferte in der Tonne ein sensationelles Konzert ab.
Sa, 17. Dezember 2022, Dresdner Neueste Nachrichten
von Beate Baum
Ich habe die Zukunft des Avantgarde-Rocks gesehen, und ihr Name lautet Hallam London. Kann das wahr sein? Ist das da oben auf der Tonne-Bühne wirklich eine Dresdner Band? Nichts gegen Dresden, und natürlich hat die Musikhochschule schon so manches Talent hervorgebracht - aber das hier ist doch eine Klasse für sich. Da kann wirklich die bekannte Reaktion Jon Landaus auf ein Konzert Bruce Springsteens herangezogen werden. Denn was im Hier und Jetzt in dem kleinen Jazzclub passiert, erfüllt die alte Sehnsucht nach der Erlösung im Rock’n’Roll.
Ein Derwisch, ein Schamane, jemand, der sich auf der Bühne auslebt, als wäre er dafür geboren. Hallam London, der junge Mann - schreiben wir jetzt einfach mal, trotz des androgynen Auftretens und all der Songs, die sich um das Thema Identität drehen -, über den man erstaunlich wenig im Netz findet, ist ein Phänomen. Schon seine Vertonungen von Shakespeare-Sonetten vor sechs Jahren war ein starkes Stück Post-Rock und wurde zu Recht von Kritikern gefeiert. Was er nun jedoch unter dem Titel „Be Yourself in 11 Easy Lessons“ (Sei du selbst in 11 einfachen Lektionen) herausbringt, ist noch einmal ein gewaltiger Schritt nach vorn.
Als Record-Release-Konzert angekündigt, wird es das Album doch erst im Mai geben, so London in der Tonne. Der nicht so heißt, kein Engländer, sondern Deutscher ist, und trotz seines jugendlichen Aussehens bereits eine facettenreiche musikalische Entwicklung durchgemacht hat. Wenn jedoch jemand so hingebungsvoll eine künstlerische Persona aufbaut und darin und damit authentisch agiert und nicht albern wirkt, wie man es ja leider viel zu oft erlebt - dann stricken wir gern ein bisschen am Mythos mit.
Vorerst also noch kein Album, sondern die Stücke werden sukzessiv als digitale Singles herausgebracht. Und es gab sie zu hören, live, in der Tonne. Insofern also doch eine Premiere und eine, von der diejenigen, die dabei waren, wohl noch lange reden werden. Aber wie klingen sie denn nun, die elf einfachen Lektionen, man selbst zu sein? Nun, im Wesentlichen danach, dass jeder und jede dazu eine E-Gitarre braucht und drei gute Freunde, die ebenfalls an die Heilkraft des Rock’n Roll glauben. Dann muss enormes handwerkliches Können an den Instrumenten hinzukommen, ganz viel Drive und Druck - und eine kleine Prise jenes Elixiers, das alle so gern hätten. Das zwar auch nach Jahrzehnten noch nicht gefunden wurde, nicht im Labor isoliert, nicht von Forschern benannt werden konnte - von dem aber klar ist, dass es aus solider Mugge etwas Großes macht, etwas, das die Müden aufweckt, die Frierenden wärmt, alle gemeinsam in eine andere, bessere Zukunft trägt.
Hallam London hat sich vom Sampling über Elektronik-Spielereien dem Rock zugewandt. Auch live greift er selbst immer mal wieder zur E-Gitarre, vor allem aber hat er dafür die richtigen Leute an Bord: Jonathan Zielke, ebenfalls Absolvent der Hochschule für Musik, steht anfangs stoisch, mit teilnahmslosem Blick auf seiner Position (die Band hat sich vor einem abstrakten schwarz-weißen Hintergrundbild regelrecht aufgereiht), gibt aber von Anfang an mit seiner E-Gitarre ungeheuren Druck auf den Kessel. Leonhard Endruweit am E-Bass - vor allem Dresdner Theatergängern bekannt für seine Einsätze bei interessanten Stücken - steht ihm in nichts nach. Fabian Buchenau - Alternative-Drummer aus Leipzig - am Schlagzeug bleibt eher im Hintergrund und sorgt für das richtige Fundament, auf dem London seine großartige, volle Stimme entfalten und seine Persona als Paradiesvogel fliegen lassen kann.
Hallam Londons Kostüm hat Federärmel, darunter trägt er ein Rocker-Shirt. Frisur und Schminke erinnern an alte David-Bowie-Aufnahmen, die Bewegungen sind divenhaft-theatralisch. Aber: Alles passt. Alles funktioniert. Der Gesang hat hypnotische Qualitäten, und London setzt sie ein. Auf sein „It’s me again“ (Ich bin es wieder) haben die zahlreich erschienenen Besucher gewartet. Von Anfang an stürzen sie sich mit Begeisterung in das Konzert, tanzen im wieder frei geräumten Tonne-Raum, folgen hinterher gar einer Aufforderung des Gitarristen, kollektiv in die Hocke zu gehen.
Beim ersten Mal Hören ist leider wenig von den Texten des englischen Dichters Ian Badcoe, mit dem London für die Stücke zusammengearbeitet hat, zu verstehen. Was ankommt, trifft jedoch ganz offenbar den Nerv einer empfindsamen, verletzten Generation. „If I can just survive“, heißt es da (Wenn ich nur überleben kann) - eine absolut selbstbestimmte Beschwörung.
Der Vierer steht das erste Mal zusammen auf der Bühne, sagt ein emotional angefasster London bei seiner Begrüßung. Und man kann nur konstatieren: Bitte noch ganz oft! Gebt uns viel, viel mehr von dieser Musik, die nach vorn getrieben wird von Gitarren und Londons Persönlichkeit. Dieser Musik, die jenes geheime Elixier in sich trägt und es verschwenderisch ausreicht an die, die Ohren haben zu hören.